Wir sind so viel mehr wert als die Summe unserer Teile

Rote Tulpe auf einer grünen Wiese mit dem Spruch „Wir sind so viel mehr wert als die Summe unserer Teile“

Als ich fünf Jahre alt war, starb mein hoch betagter Opa und meine Omi, 89, war untröstlich. Der Arzt sagte zu uns, wir sollen sie ruhig zu uns nehmen und ihr noch ein schönes Jahr bei ihren Kindern schenken, länger würde sie es eh nicht mehr machen. Oft stürbe der Partner quasi hinterher, wenn man so lange und glücklich zusammen gewesen sei. Meine Omi lebte noch zehn Jahre, acht davon bei uns. Sie hatte einen eisernen Lebenswillen, war gesund wie ein Pferd und geistig wie körperlich bis zum Tode ziemlich fit.

Alt sein ist nichts für Feiglinge

Dennoch machte es ihr sehr zu schaffen, miterleben zu müssen, wie halt mit dem Alter alles ein bisschen schlechter geht. Auch bei Gesundheit – die Augen werden schlechter, das Hören fällt schwerer, man ist nicht mehr so schnell, wie man möchte, und geistig nicht so fix wie mit 20.

Alt werden ist toll. Alt sein nicht so.

Das war einer ihrer Sprüche.

Trotz aller Lebensfreude, allen Frohsinns und aller Stärke hat sie der Gedanke sehr belastet, uns eine Last zu sein. Und das war sie auch. Das versteht jeder, der seine Lieben zuhause pflegen oder auch nur betreuen muss. Mit ihr zusammenleben bedeutete

  • einer muss immer zuhause sein und aufpassen (damit sie in ihrem Übereifer nicht die Treppe runterfällt)
  • immer wieder die gleichen Diskussionen (sie war sehr gläubig und hatte im hohen Alter die fixe Idee entwickelt, der Liebe Gott könnte ihr die harmlosen Schandtaten aus der Kindheit nicht verzeihen)
  • urlaubsmäßig gebunden sein (wer will schon zwei Wochen eine 90Jährige bei sich aufnehmen, und Heime kamen damals nicht in frage)
  • mehr waschen, kochen, putzen
  • u.v.m.

Wie wäre das für uns, nach einem Leben der Selbstbestimmung, Unabhängigkeit und des Chefseins (Omi war früher Chefin in einer Großküche und Mutter von vier Kindern) plötzlich abhängig von anderen zu sein? Zu wissen, dass vielleicht der Schein einer gewissen Selbstständigkeit gewahrt bleibt, man aber letztendlich vom guten Willen anderer abhängig ist?
Neulich musste ich einen Achtzigjährigen beerdigen, der sich selbst das Leben genommen hat. Nach einem aktiven, selbstbestimmten Leben hatte er eine schlimme Krebsdiagnose bekommen und wollte seinen Kindern und Enkeln die zeitaufwändige und teure Pflege ersparen.

Darüber zu urteilen steht mir nicht zu, nur macht mich der Gedanke traurig, dass Menschen das Gefühl haben, nichts mehr wert oder nur noch eine Last zu sein, wenn sie ein gewisses Alter oder einen gewissen Krankenstatus erreicht haben.

Was das Alter uns geben kann

Ja, das Leben mit meiner Oma war anstrengend, und das, obwohl wir sie nicht „pflegen“ mussten.
Aber sie hat uns auch mit 90 noch so viel gegeben:

  • sie hat mir Unmengen an Geschichten vorgelesen
  • sie hat mir Gedichte beigebracht und mir die Liebe zum Wort geschenkt
  • sie hatte ein goldenes Herz und viel Humor
  • sie hat viele kleine Näharbeiten übernommen und war darauf stolz wie Bolle
  • sie hat bis ins hohe Alter Postkarten mit Blumenmotiven bemalt
  • sie hat meine Eltern mit ein bisschen Haushaltsgeld unterstützt (damals war eine Rente noch relativ üppig…)

Alte, kranke Menschen können nicht mehr rennen, tragen, organisieren, schnell lernen und verstehen. Sie verwechseln vieles, denken langsam, sind oft starrsinnig. Aber sie haben mehr gesehen, erlebt, gefühlt, getan und gelernt als wir. Sie können mehr erzählen als wir, wissen mehr als wir und verstehen vielleicht sogar mehr als wir.

Also hören wir ihnen zu und zeigen ihnen unsere Wertschätzung. Dann kommen sie vielleicht nicht auf die Idee, eine Last zu sein.

Mit den Augen rollen können wir dann ja später heimlich 😉